Das Konzept

In den Jahren 2015 und 2016 haben ca. 420.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Deutschland einen Asylantrag gestellt. Unabhängig von der Frage, welche Aussichten sie auf ein dauerhaftes Bleiberecht oder eine Rückkehr in befriedete Heimatländer haben, steht Deutschland vor der Aufgabe, ihnen Schutz zu gewähren und sie in die Gesellschaft zu integrieren.

Dazu gehören jedoch nicht nur die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse wie Sicherheit und Versorgung, sondern auch Konzepte, die differenzierte Antworten auf die drängende Frage geben, wie insbesondere jugendliche Flüchtlinge mitten in ihrer Identitätsfindungsphase den Spagat zwischen ihren emotional verankerten kulturellen Überzeugungen und den in einer westlichen Welt geforderten Anpassungsleistungen erbringen können.

Die Tatsache, dass ca. 80 % der ca. 63.000 Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren, die in den Jahren 2015 und 2016 einen Antrag auf Asyl gestellt haben, männliche Flüchtlinge sind, zeigt die enorme Relevanz nicht nur der Frage, mit welchen Wünschen, Fähigkeiten und Kenntnissen sie nach Deutschland gekommen sind, sondern auch der Frage, welche Vorstellungen sie mit Bildung verbinden. Zieht man außerdem in Betracht, dass viele der Kinder und Jugendlichen Monate oder sogar Jahre der Flucht und Vertreibung hinter sich haben, in denen Bildung keine oder nur eine randständige Rolle spielen konnte, so wird die Aufgabe, vor der die Jugendlichen stehen, offensichtlich.

Der Erwerb der Landessprache ist unabdingbare Voraussetzung für die Alltagskommunikation sowie für formelle und informelle Bildungsprozesse. Für viele der jugendlichen Flüchtlinge ergibt sich daraus ein enormes Problem: Sie haben zu wenig Zeit, um einerseits die Sprache umfassend zu erlernen, sich andererseits mit den Werten und Normen unserer Kultur vertraut zu machen und überdies formale Bildungsabschlüsse zu erreichen. Sprachliche Defizite wirken sich besonders auf die Chance aus, eine Beschäftigung zu finden, wenn die Muttersprache keinen oder nur geringen Verwendungswert auf dem Arbeitsmarkt hat. Auch schon vorhandene Kenntnisse und Fertigkeiten sowie berufliche Vorerfahrungen bringen kaum Vorteile auf dem Arbeitsmarkt, wenn Defizite in der Landessprache die Kommunikation verhindern oder erschweren. Ziel des Konzeptes ist es daher, beide Aspekte so miteinander zu verknüpfen, dass sowohl die Motivation für den Erwerb der Zweitsprache als auch eine basale Vorbereitung auf eine Ausbildung in einem handwerklich-technischen Beruf gefördert werden.

Weil der Erwerb der Sprache ein zentrales Element gelingender Integration ist, kommt der Frage nach geeigneten Methoden der Sprachvermittlung eine große Bedeutung zu, die intensiv und teils kontrovers diskutiert werden. Insbesondere ist strittig, ob ein Unterricht, der sich explizit auf den Spracherwerb ausrichtet, zielführender ist als eine Integration in den Regelunterricht, in der die Sprache immersiv, also in vielfältigen, authentischen Situationen ohne explizites Eingehen auf die Sprachschwierigkeiten erlernt wird. Beide Zugänge haben unbestritten Vor- und Nachteile, die sich besonders in der Frage der sozialen Eingebundenheit sowie in der Effektivität des Erwerbs der Sprache widerspiegeln. Insbesondere für ältere Jugendliche spielt aber ein weiterer Aspekt eine entscheidende Rolle: Sie müssen innerhalb kürzester Zeit nicht nur die Sprache erlernen und die basalen kulturellen Gepflogenheiten kennen, sondern darüber hinaus in der Lage sein, berufsbezogene Konzepte zu beherrschen, die konstitutiv für eine Ausbildung sind.

Mit dem Konzept des multisensorischen Spracherwerbs wird angestrebt, beide Konzepte zu verbinden: der Spracherwerb steht im Vordergrund, wird aber in handlungs- und produktorientierten Situationen vermittelt, die einen authentischen Gehalt haben.
Denn die Verständigung anhand zu bearbeitenden Objekten mindert Sprachbarrieren. Selbst wer kein einziges Wort der Sprache seines Gegenübers versteht, kann durch das Hantieren oder materielle Arbeiten mit bzw. an einem Gegenstand kommunizieren. Der Gebrauch von Werkzeugen und die sachgerechte Anwendung lassen sich weitgehend durch Demonstration und Übung erlernen. Dieser Zugang ist nicht nur hilfreich, um erste Hürden der Kontaktaufnahme zu überwinden und Gemeinschaften herzustellen. Die Freude über einen gemeinsam erreichten handwerklichen Erfolg und eine soziale Einbindung erleichtert den Zugang zur Sprache, weil diese sukzessive angereichert und ausdifferenziert wird.

Während ein expliziter Sprachunterricht sich häufig dem weitgehend abstrakten und regelgeleiteten Spracherwerb widmet, der auf verbaler und schriftsprachlicher Ebene angesiedelt ist und der individuelle Interessen nur bedingt aufnehmen kann, bietet der Technikunterricht die Chance, auf unterschiedlichen Ebenen und in differenzierter Gewichtung sowohl den Spracherwerb als auch basale und fortgeschrittene Fertigkeiten und Kompetenzen im handwerklich technischen Handeln zu befördern.

Insbesondere in der ersten Phase der sprachlichen Orientierung trägt eine weitgehend nonverbale Vermittlung im handlungsorientierten Unterrichts dazu bei, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen positiv zu beeinflussen, indem das Produkt zunächst im Vordergrund steht. Ungekünstelte Anerkennung, die aus dem Erfolgserlebnis, etwa durch die Lösung eines Reparaturproblems oder eine besondere handwerkliche Fertigkeit, resultiert, kann unabhängig von den sprachlichen Kompetenzen dazu beitragen, die Motivation aufrechtzuerhalten. Talente unterschiedlicher Natur kommen hier zur Geltung, weil ein möglichst großes Spektrum an Zugängen zur Lösung von Problemen als notwendig anerkannt werden kann. Die sukzessive Anreicherung durch die Sprache unter Einbezug aller Sinne wird mit dem handlungsorientierten Unterricht als Ergänzung zum Sprachunterricht aufgefasst.

Die Handlung wird in diesem Zusammenhang als Tätigkeit aufgefasst, die zielgerichtet, d.h. bewusst auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet ist und der als Schema die Handlung gedanklich vorwegnimmt. Die Handlung umfasst also den gesamten Prozess der Planung, Durchführung und Kontrolle und wird dabei wesentlich selbstbestimmt durch die Lernenden gedanklich vorbereitet, ausgeführt und bewertet. In unterschiedlicher Akzentuierung werden sie darin begleitet und unterstützt. Insbesondere wenn die Kommunikation über die Sprache nur unzureichend möglich ist, spielt der Anteil motorischer Handlungsabfolgen eine herausragende Rolle, weil der sprachliche Anteil der Wissensvermittlung einen (zunächst) vergleichsweise geringen Anteil hat.

Die Handhabung von Werkzeugen kann dabei bedeutsam für die Motivation und die Selbstwirksamkeitsüberzeugung insbesondere derjenigen Schülerinnen und Schüler sein, die noch Probleme mit dem Erinnern und Reproduzieren rein kognitiv-sprachlicher Inhalte haben. Dort, wo Lernende selber tätig werden und Gegenstände eigenständig bearbeiten können, werden intrinsische Anteile der Motivation in starkem Maße gefördert, weil die Sinnhaftigkeit des Tuns und die Selbstwirksamkeit in den Vordergrund treten können.

Die Verknüpfung von Wissensinhalten, die im semantischen Gedächtnis eingespeichert und konsolidiert werden sollen, erhalten durch die Handlung einen engen Bezug zu der Situation, in der sie relevant sind. Der Abruf der Inhalte geschieht daher in der Verbindung von Handlung und Information und erleichtert den Aufbau komplexer Gedächtnisinhalte. Je häufiger Arbeitsabläufe trainiert werden, desto besser können über Rückkopplungen erfolgreiche Prozesse und die damit verbundenen neuronalen Verschaltungen konsolidiert werden.

Das Ziel eines handlungsorientieren Unterrichts in Sprachlernklassen muss daher einerseits darin bestehen, handwerkliche Prozesse sowie deren Planung und Kontrolle (zweit)sprachlich zu begleiten, indem das Erfassen der Wortbedeutung und damit verbunden der Aufbau des Wortschatzes über die Handlung mit dem Objekt sowie durch das Begreifen gefördert wird. Anderseits bietet dieser Ansatz die Möglichkeit, Selbstwirksamkeitserfahrungen zu machen, die sich unabhängig sprachlicher Kompetenzen aus der sprachunabhängigen Handlung selber entwickeln. Insbesondere Schülerinnen und Schüler, die bereits Kompetenzen in technischen Bereichen etabliert haben, diese aber auf dem (fach)sprachlichen Niveau nicht ausdrücken können, können durch diesen Ansatz ihre Potenziale zum Ausdruck bringen. Diejenigen, die sich basale handwerklich-technische Kompetenzen im Unterricht aneignen, erleben Erfolge auf einer sprachungebundenen Ebene, denn um den Prozess der Integration zu erleichtern, ist die Stärkung des Selbstwertgefühls maßgeblich. Eine dem individuellen Bildungsstand angemessene Handlungs- und zugleich Verständigungsebene, die Raum für die Integration eigener Erfahrungen bietet, kann dazu beitragen. Lernarrangements, die unabhängig vom Sprachstand das Bedürfnis nach Kompetenzerleben, sozialer Nähe und eigenständigem Handeln befriedigen und darüber hinaus ein basales Gefühl der Zufriedenheit mit dem Ergebnis ihrer Bemühungen herstellen, müssen daher besonders in der Zeit des basalen Spracherwerbs im Mittelpunkt stehen. Ein emotional positiv konnotiertes Bildungsangebot kann dazu beitragen, jugendliche Flüchtlinge in ihrem Bemühen zu unterstützen, die Hürden der kulturellen und beruflichen Integration zu meistern, denn das Gefühl, wahrgenommen und mit den individuellen Fähigkeiten anerkannt zu werden, ist entscheidend für eine gelingende Integration.